Blog: Irrelevante Werbung: Wer ist verantwortlich?

Die meiste Werbung ist irrelevant. Die Irrelevanz ist jedoch keine Ausrede, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Walter Merz, Geschäftsführer des BSW, schrieb 2005:

«[Werbung] muss die Empfänger ihrer Botschaft ernst nehmen. Sie darf weder dumm, anstössig noch zynisch oder arrogant sein. Sondern einfach und verständlich. Sie darf provozieren und polarisieren. Und sie muss kreativ sein, intelligent und relevant. Werber und ihre Auftraggeber müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Kein Schrott, keine geistige Umweltverschmutzung, keine verbalen Entgleisungen und keine optischen Beleidigungen.»

Das war vor vier Jahren. Der Artikel trägt die Überschrift «Die Freiheit der Kommunikation ist in Gefahr». Nach meinem Kommentar zu meinem letzten Beitrag dürfte klar sein, dass Walter Merz nicht von Kommunikation spricht, sondern von Werbung, allenfalls von kommerzieller Kommunikation (denn bei diesem Begriff hat man sich daran gewöhnt, dass er keine Reziprozität verlangt).

Was Walter Merz richtig gesehen hat, ist, dass die Werbeindustrie den Werbeverboten, von denen sie sich so bedroht fühlt, vorbeugen könnte, indem sie eine visuell und intellektuell respektvollere Ansprache verfolgt. Ich bin ja nicht blöd. Walter Merz fordert, dass Werbung kreativ, intelligent und relevant sein müsse. Ist seit seinem Aufruf etwas geschehen? Wenige hervorragende Agenturen haben in noch weniger hervorragenden Kampagnen kreative, und ganz selten intelligente Werbung gemacht. Das war früher nicht anders. Trotzdem geht sie unter in der Flut von geistig beleidigenden Botschaften. Die Werbeindustrie als Ganzes ist kein bisschen kreativer oder intelligenter geworden. Die grossen Kampagnen werden auch heute noch von internationalen Konzernen diktiert – was zu Frust führt, der den Kampagnen anzusehen ist.

Und relevante Werbung? In Gesellschaften, die weit oben auf Maslows Pyramide angelangt sind und nur noch Substitutionsgüter bereitgestellt erhalten, gibt es keine relevante Werbung mehr. Die käuflichen Objekte sind für die Konsumenten austauschbar, genauso wie die Konsumenten für die Hersteller käuflicher Objekte austauschbar sind. Wie relevant ist ein neues Auto, das nicht nur gleich aussieht, sondern auch die gleiche Funktion erfüllt wie jenes der Konkurrenz? Wie relevant ist ein neuer Swisscom-Handy-Tarif angesichts hunderter von Preisplänen? Wie relevant ist eine neue Ta-bou-Unterwäsche, die nicht schöner und nicht weniger schön ist als jene von Calida? Diese Produkte für sich gesehen sind nicht relevant. Darüber zu sprechen, wie es die Werbung tut, ist ein Diskurs über das Triviale, der uns mit der Zeit dazu konditioniert, uns mit Trivialitäten zu begnügen. Da wir eine beschränkte Aufnahmefähigkeit haben, können wir weniger geistige Kapazitäten für Relevantes aufwenden.

«Werber – und ihre Auftraggeber – haben eine soziale Verantwortung», schreibt Walter Merz. Ich möchte präzisieren, dass sie nicht eine geteilte Verantwortung haben, wo jeder ein bisschen Verantwortung trägt und damit tatsächlich niemand, sondern dass jede und jeder die volle Verantwortung trägt. Jacques Derrida (Politik der Freundschaft, S. 338) fasst die verschiedenen Dimensionen der Verantwortung konzis zusammen:

Man sagt répondre de-: «Verantwortung tragen oder übernehmen, verantwortlich sein, einstehen, haften, bürgen für-»; «répondre à-: antworten auf-, jemandem oder etwas (einem Gesuch, einer Bitte etc.) antworten oder entsprechen»; und schließlich «répondre devant: sich oder etwas, sich für etwas verantworten vor-». Diese drei Modalitäten lassen sich nicht nebeneinanderstellen, sie sind ineinander verschränkt und implizieren einander. Man trägt oder übernimmt Verantwortung für sich selbst oder für etwas (für jemanden, eine Handlung, einen Gedanken, einen Diskurs) indem man sich vor einem anderen, vor einer Gemeinschaft von anderen, vor einer Institution, vor einem Tribunal, vor dem Gesetz verantwortet. Und stets trägt oder übernimmt man Verantwortung für- (sich selbst, seine Handlungen, seinen Diskurs) und verantwortet sich vor-, indem man zunächst antwortet (jemandem oder auf-). Diese letzte Modalität scheint demnach eine ursprünglichere, fundamentalere und also unbedingte zu sein.

Verantwortung hat mit der Fähigkeit zu antworten zu tun. Es erstaunt nicht, dass in einer Industrie, die von einem ausschliesslichen Sendungsbedürfnis geprägt ist, der Begriff der Verantwortung ein kümmerliches Dasein fristet. Wie soll man sich verantworten, wenn man die Antwort nicht vernehmen kann? Hier ist ein radikaler Wandel erforderlich und das Eingeständnis, dass alle Beteiligten voll verantwortlich sind für den Mist, der nach draussen gelangt. Alle heisst: jede und jeder einzelne. Das bin auch ich – als Produzent wie als Rezipient. Wer seine Verantwortung nicht akzeptieren kann, der soll wenigstens aufhören, aktiv an der Produktion von Mist zu arbeiten.

Und wem ein positives Statement lieber ist, dem sei der Schlusssatz aus Dieter Thomäs Artikel «Rede und Antwort stehen» in der NZZ vom 24.6.09 überreicht: «Gesucht sind Individuen, die Haltung zeigen und Haftung übernehmen, die nachhaltig handeln und sich, wenn sie gefragt werden, vor keiner Antwort drücken.»

Wer fühlt sich betroffen?

Dieser Beitrag von Christian Hänggi erschien ursprünglich auf dem Blog des Werbe- und Kommunikationsbranchenportals persoenlich.com.