Blog: Werbung im öffentlichen Verkehr: Geben wir noch einen drauf!

(Dies ist mit Abstand mein längster Blog-Beitrag. Bitte nehmen Sie sich Zeit, drucken Sie ihn aus und lesen Sie ihn wann Sie Zeit haben. Er ist wichtig.)

Immer wieder schleichen sich neue Werbeformen in den öffentlichen Verkehr. Die SBB Immobilien beispielsweise führt immer wieder neue Werbebildschirme, Grossplakate und Wechselwerbung ein, so dass man heute vor lauter Werbung den Bahnhof kaum noch sieht. Doch auch die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) – wie viele ihrer Pendants in anderen Städten – eröffnen der Werbeindustrie unter dem abgegriffenen Label «Innovation» stets neue Möglichkeiten, in einer komplett übersättigten Aufmerksamkeitsökonomie noch einen draufzugeben.

«Cobra»: Vom Niedergang eines schönen Trams

Vor ein paar Jahren hat die VBZ sich und der Bevölkerung das Cobra-Niederflurtram geschenkt. Obwohl es manchmal etwas eng wird darin, hat mir das Interieur stets gut gefallen. Im Gegensatz zu anderen Trams gab es keine Fensterwerbung und die Hängekartons konnte noch zählen, wer Musse dazu hatte. Vielleicht ist es nur mir aufgefallen, aber nach einer gewissen Zeit klebte einmal da ein Fenstertransparent, dann dort und schliesslich überall. Genauso verlief es mit den Hängekartons. Die stilvolle Innengestaltung ist hinter den Werbungen verschwunden und heute weiss bestimmt niemand mehr, dass es früher anders war.

Man hat sich daran gewöhnt. Und wie alles Gewohnte, nimmt man es nicht mehr war, wie der Kommunikationsphilosoph Vilém Flusser vor langer Zeit bemerkt hat. Die VBZ schreibt, dass sich die Akzeptanz der Fenstertransparente in den Cobras erhöht hat. Doch sie nennt keine Quelle für diese Behauptung, geschweige denn eine Quelle, die berücksichtigt, dass jede schleichende Entwicklung die Aufmerksamkeitsschwelle erhöht und somit zu mehr «Akzeptanz» führt, was nichts anderes heisst als «Indifferenz» oder «Nichtbeachtung».

«Moving Posters»: Die Stadt im Lochraster

Doch damit nicht genug. Der neuste Streich der VBZ TrafficMedia ist eine perfide Werbeform, die den Namen «Moving Posters» trägt (es bewegt sich das Tram, nicht das Plakat). Moving Posters sind Plakate, die ganze Fenster abdecken. Von aussen sieht man nicht mehr, wer gedankenverloren in der Nase bohrt und von innen sieht man das Grossmünster, die Seepromenade und den Paradeplatz durch einen Lochraster.

«Werbewelten»: Es gibt kein Entkommen

Doch damit nicht genug. Ein weiterer neuer Streich der VBZ TrafficMedia ist eine noch perfidere Werbeform, die – ehrlich und doch irgendwie euphemistisch – «Werbewelten» heisst. Diese Trams sind von oben bis unten und hinten bis vorn mit Werbung für ein einzelnes Unternehmen vollgepflastert, und man hat nicht die geringste Chance, ihr zu entkommen. Die Wahlfreiheit, die uns auch sonst nicht gewährt wird, wird hier endgültig zum Teufel gejagt. Wer nun meint, dass eine Tramfahrt in einem Werbewelten-Tram kostenlos ist, wie es die werbefinanzierten Pendlerzeitungen sind, der irrt. Und wer meint, dass sie dafür noch ein paar Batzeli einstecken könnte, ist eine hoffnungslose Idealistin.

Ohnmacht und Aggression

Mir ist es seit langem unwohl in den Trams, weil sie derart mit Werbung vollgestopft sind. Doch neue Werbeformen wie die Moving Posters und die Werbewelten lösen in mir ein regelrecht körperliches Unbehagen aus, eine Aggression gepaart mit Machtlosigkeit und Verzweiflung – und ich sage dies nicht um zu kokettieren. Mir wird psychisch und physisch schlecht, und der Rest des Tages ist mir verdorben. Ich weiss nicht, wie vielen anderen Menschen es so geht, aber ich kenne einige gesellige und friedliebende Zeitgenossen, die aus diesem Ohnmachtsgefühl zu Bestien werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Aggression in Sachbeschädigung umschlägt.

Naiv wie ich bin, habe ich immer daran geglaubt, dass die Bevölkerung in einem Land, das sich demokratisch nennt, über ihr Eigentum und die öffentlichen Güter mitbestimmen darf und soll. Und naiv wie ich bin, habe ich immer gedacht, dass es wichtig ist, dass man den zuständigen Ämtern und Stellen Feedback gibt, denn das erhalten sie sonst nicht, auch nicht über Meinungsumfragen. Aus diesem Grund habe ich kürzlich Daniel Andres, dem Leiter von VBZ TrafficMedia, geschrieben und meinen Unmut ausgedrückt. Nur wenig später habe ich eine vorgefertigte Antwort erhalten, die voll von PR-Sprache ist und von Wirtschaftlichkeit, Ertragsfeldern und Wettbewerbsfähigkeit faselt.

Der Vollständigkeit halber hier das Antwortschreiben von VBZ TrafficMedia:

Sehr geehrter Herr Hänggi

Vielen Dank für Ihr Schreiben. Wir verstehen Ihren Ärger. Es ist so, dass auch die städtischen Betriebe angehalten sind, Kosten zu minimieren und mögliche Ertragsfelder auszubauen. Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit sind wichtige Zielsetzungen im öffentlichen Verkehr. Und in der Verkehrsmittelwerbung besteht tatsächlich Optimierungspotenzial. Dennoch sind die VBZ bestrebt, dass Werbung nicht zum Störfaktor wird.

Neu bei uns sind die sogenannten «Moving Posters», die zusammen mit einer Dachwerbung an jeder Seite des Fahrzeugs platziert werden. Es darf nur 1 Poster pro Seite angebracht werden. Ausserdem gelten strenge Restriktionen: Von den über 300 Tramfahrzeugen der Züri-Linie dürfen nurmehr 15 Fahrzeuge gleichzeitig mit Moving Posters ausgerüstet werden. Das sind 5 % unserer Fahrzeugflotte. Auch die Werbewelten-Trams (Bauhaus) sind ein exklusives Produkt: Höchstens 5 Fahrzeuge dürfen in dieser Form ausgestattet werden. Die Zahl der Hängekartons sind in den letzten 4 Jahren nicht erhöht worden. In einem Cobra gibt es 40, in einem Tram2000 20 Stellen für Hängekartons. Was zugenommen hat, ist die Dispenser-Werbung. (Antwortkarten).

Wenn Sie einen Blick auf andere Städte in der Schweiz werfen, wo Vollbemalungen und TrafficBoards seit Jahren erlaubt sind, ist Zürich die Stadt mit den stärksten werblichen Einschränkungen. Das «Züri-Blau» wird auch in Zukunft ein prägendes Element im Stadtbild bleiben. Wie oben erwähnt, sind diese Massnahmen unabdingbar, um die erhöhten Budgetvorgaben des Kantons (ZVV Zürcher Verkehrsverbund) zu erfüllen und die Qualität der Serviceleistungen auf gegenwärtigem Niveau zu halten.

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben und wir werden alles daran setzen, unseren Fahrgäste bestmöglichen Service zu bieten.

Mit freundlichen Grüssen
VBZ TrafficMedia

Auf die PR-Floskeln («Wir verstehen Ihren Ärger», «…bestrebt, dass Werbung nicht zum Störfaktor wird», «Wir werden alles daran setzen, unseren Fahrgästen den bestmöglichen Service anzubieten») will ich nicht weiter eingehen. Auch will ich nur darauf hinweisen, dass ich nirgends in der Schweiz im Innenraum der Fahrzeuge so viel Werbung angetroffen habe wie in Zürich und dass ich in ganz Nordamerika nirgends Werbung an Fenstern bemerkt habe. Ebenfalls darf nicht vergessen werden, dass das Argument der Wettbewerbsfähigkeit in einem natürlichen Monopol wie jenem des öffentlichen Verkehrs fehl am Platz ist.

VBZ TrafficMedia schreibt, dass nur 1 Moving Poster pro Seite angebracht werden darf. Dennoch habe ich fotografisch festgehalten, dass es Trams gibt mit 2 Moving Postern pro Seite. Weshalb die VBZ ihre eigenen Regeln so kurz nach der Einführung bricht, will mir nicht einleuchten.

Wirtschaftlichkeit: eine fabrizierte Notwendigkeit

Doch gehen wir kurz auf die Wirtschaftlichkeit ein. Der politische Philosoph Alain Badiou schreibt in seinem Buch Ethik treffend: «Der moderne Name der Notwendigkeit ist die Ökonomie.» Genauso verhält es sich hier – und genauso verhält es sich im Übrigen mit der Aussenwerbung in den Städten und in geringerem Mass in den Dörfern. Anstatt sich ernsthaft mit Begriffen wie «Service Public», «öffentlicher Raum», «Demokratie», «Meinungsäusserungsfreiheit», «Wahlfreiheit», «Mitbestimmung» usw. auseinanderzusetzen, werden ökonomische Notwendigkeiten fingiert und fabriziert, Notwendigkeiten, denen man absolut zu gehorchen hat und denen man die hehren obgenannten Ideale ohne mit der Wimper zu zucken unterwirft. Die grossen gesellschaftlichen Errungenschaften seit den Griechen und der Aufklärung sind wenig mehr als Stolpersteine für einen blinden Neoliberalismus, der seinen Zenit längst überschritten hat und im Werden der egalitären Gesellschaften nicht viel mehr als ein missglückter Marktausflug war (wenn auch einer, der viel Leid gebracht hat).

Der moderne Name der Notwendigkeit ist die Ökonomie. Schauen wir uns die Ökonomie kurz an: Der Umsatz von VBZ TrafficMedia entspriach 2009 lediglich 2,35% des Ertrags der VBZ. Leider muss ich den Umsatz von VBZ TrafficMedia dem Ertrag der VBZ gegenüberstellen, doch andere Zahlen habe ich nicht gefunden (die Aufwände von VBZ TrafficMedia sind vermutlich in den Posten Personalaufwand und Sachaufwand versteckt). Als Gedankenexperiment nehmen wir deshalb an, dass der Umsatz von VBZ TrafficMedia auch dem Ertrag entspricht.

Was es kosten würde, wenn man wählen könnte

Würde man auf Werbeeinnahmen verzichten und die Einnahmeeinbussen komplett auf den Fahrpreis abwälzen, dann würde sich der Preis für ein Billett folgendermassen erhöhen:

24 Stunden, ½-Tax: CHF 5.80 | neu: CHF 5.93 (+ CHF 0.13)
Monatsabo: CHF 79.00 | neu: CHF 80.86 (+ CHF 2.86)
Jahresabo: CHF 711.00 | neu: CHF 717.71 (+ CHF 16.71)

Ich würde jederzeit und sofort diesen Mehrbetrag bezahlen, ja, ich würde sogar das Doppelte bezahlen, doch werde ich weder gefragt, noch habe ich die Wahl.

Infrastruktur hat seinen Preis und das Leben in Gemeinschaft kommt mit Aufwendungen, die die Gemeinschaft zu tragen hat. Wer ein gutes öffentliches Verkehrsnetz will, muss dafür auch bezahlen. Wie ich in einem anderen Blog-Beitrag erwähnt habe, haben Seattle WA und Portland OR – Städte, die man durchaus mit Zürich vergleichen kann – ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz mit sehr wenig Werbung, und die Benutzung in der Innenstadt ist kostenlos. Gratis. Doch hierzulande ist es nicht so, dass wer viel bezahlt (Fahrgäste und Steuerzahler) auch viel befiehlt (VBZ, VBZ TrafficMedia und Werbeindustrie).

Was Sie tun können

Werbetreibende: Vergessen Sie nicht, dass Sie in erster Linie Bürgerinnen und Bürger sind und erst in zweiter Linie Werbetreibende. Boykottieren Sie Werbeformen, die aussergewöhnlich störend sind. Und denken Sie daran, dass mehr Werbung weniger Aufmerksamkeit bedeutet.

Mäzeninnen: Kaufen Sie ein Jahr lang alle Werbeflächen auf und lassen Sie sie frei.

Passagiere und Bürgerinnen: Schreiben Sie einen Brief oder eine E-Mail an Ihren Verkehrsbetrieb und Ihren Stadtrat und fordern Sie sie auf, solch unsinnige Werbeformen zu unterlassen.

Konsumenten: Boykottieren Sie die Unternehmen, die Ihnen die Sicht versperren.

Verkehrsbetriebe: Seien Sie stolz auf Ihre Stadt und überlegen Sie ganz genau, was Sie zu welchem Preis hergeben. Reduzieren Sie Werbung, setzen Sie werbefreie Fahrzeuge ein und lassen Sie sich nicht von «Notwendigkeiten» unter Druck setzen.

Dieser Beitrag von Christian Hänggi erschien ursprünglich auf dem Blog des Werbe- und Kommunikationsbranchenportals persoenlich.com.